Vor zwei Wochen verabschiedete sich der Sprinter Simon Wulff bei der Einweihung des umgebauten Heinz-Steyer-Stadions in Dresden von der Leichtathletik.
Was ursprünglich als kleiner Abschied geplant war, entwickelte sich zu einer der eindrucksvollsten Überraschungen der deutschen Leichtathletik:
Wulff sprintete die 100 Meter in 10,06 Sekunden – und wurde damit der viertschnellste Deutsche aller Zeiten.
Was aber macht diesen Fall so bemerkenswert, und was können Sprinter und Trainer daraus lernen?
Die Entwicklung von Simon Wulff
Wulff, 23 Jahre alt, 2,06 Meter groß und über 100 Kilogramm schwer, war jahrelang ein Sprinter der zweiten Reihe.
Seine bisherige 100 m Bestzeit lag bei 10,23 Sekunden.
Sein Trainer glaubte, Wulff habe sein Limit erreicht.
Doch Wulffs Karriere nahm eine unerwartete Wendung, als er nach einer Anfrage des deutschen Bob-Stars Francesco Friedrich beschloss, eine neue Richtung einzuschlagen – den Bobsport.
Friedrich bat ihn, Teil seines Teams als Anschieber zu werden, mit dem Ziel, bei den Olympischen Spielen 2026 zu gewinnen.
Im Rahmen dieses neuen Ziels legte Wulff durch spezifisches Krafttraining ganze acht Kilogramm Muskelmasse zu.
Der Aufbau von Maximalkraft und Explosivkraft – zentrale Bestandteile des Bobtrainings – wurde der Fokus seiner Trainingsroutine.
Er wollte im August noch einen letzten Wettkampf in Dresden bestreiten, bevor er seine 100 m Karriere an den Nagel hängen.
In einem Testlauf in Köln kurz vor lief er plötzlich eine neue persönliche Bestzeit von 10,21 Sekunden.
Später in Dresden sprintete er sogar sensationelle 10,06 Sekunden, was ihm einen Platz unter den besten deutschen Sprintern aller Zeiten sicherte.
Bemerkenswert ist dabei, dass Wulff mit 23 Jahren noch am Anfang seiner Karriere steht, insbesondere im Sprint und auch Bobsport, wo Athleten oft erst zwischen Ende 20 und Mitte 30 ihre physische Höchstleistung erreichen.
Die große Frage, die sich nun stellt, ist:
Unterschiede zwischen Leichtathletik- und Bobtraining
Das Training für den Bobsport unterscheidet sich stark von dem für den Sprint in der Leichtathletik.
Während in der Leichtathletik der Fokus oft auf Geschwindigkeit und Elastizität liegt, betont das Bobtraining Maximalkraft und Explosivkraft. Sowie in vielen Fällen den Aufbau von Muskelmasse als entscheidende Basis um schneller zu werden.
Im Falle von Wulff verlangte der Bobverband ausdrücklich, dass er seine Muskelmasse signifikant erhöhte, um die physischen Anforderungen des Anschiebens zu erfüllen.
Dieser gezielte Muskelaufbau und die Steigerung der Maximalkraft führten bei Wulff zu einem unerwarteten Leistungssprung im Sprint.
Wulffs Trainer hatten zuvor „sein Defizit in der Athletik gesehen. Diese ganzen kleinen Muskelgruppen waren einfach viel zu schwach ausgeprägt. Darauf hätte man sich wahrscheinlich schon konzentriert, aber nicht auf die Hypertrophie oder den Muskelaufbau dieser großen Antriebsmuskulatur.“
Es zeigt sich jedoch, dass die Kombination aus Maximalkraft und Muskelaufbau in seinem Fall beeindruckende Ergebnisse liefern kann.
Vom Sprinter der zweiten Reihe zur Olympia-Hoffnung
Wulffs Fall ist außergewöhnlich:
Vom Sprinter ohne Titelambitionen wurde er durch die Umstellung seines Trainings beinahe zum deutschen Rekordhalter.
Basierend auf seiner aktuellen Leistung wäre er sogar für die Olympiaqualifikation im Sprint gut aufgestellt, doch er hat sich für den Bobsport entschieden.
Es bleibt abzuwarten, ob er nach 2026 zur Leichtathletik zurückkehrt – möglicherweise als einer der schnellsten Sprinter Deutschlands.
Wie man schneller wird
Wer schneller werden will und noch ganz am Anfang steht, muss grundsätzlich zwei entscheidende Komponenten fokussieren:
1. Mehr rennen
2. Maximalkraft auf Basis muskulärer Balance aufbauen
Für Anfänger und untrainierte Athleten ist das die entscheidende, zuverlässige Basis um schneller zu werden.
Je fortgeschrittener ein Athlet ist, desto wichtiger wird die Individualisierung des Trainings.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Metapher des Schulsystems:
Die Grundschule vermittelt für alle dieselben Basisfähigkeiten – Lesen, Schreiben, Rechnen.
Doch später wird die Spezialisierung auf die individuellen Stärken und dem individuellen Potential entscheidend, sei es als Ingenieur, Künstler oder Sportler.
Im Sprinttraining kann man zwei Richtungen unterscheiden:
Geschwindigkeit primär durch Fokus auf Elastizität.
Beide Ansätze können erfolgreich sein, wie als klassisches, historisches Beispiel die Leistungen von Carl Lewis (Elastizität) und Ben Johnson (Maximalkraft) zeigen.
Zu oft ist die Frage, welcher Ansatz der bessere ist.
Beide sind erfolgreich, das ist Fakt.
Entscheidend ist zu bestimmen, welcher dieser beiden Ansätze für einen individuellen Athleten zum aktuellen Zeitpunkt und Status, der effektivere ist.
Entscheidend ist es, herauszufinden, wo das individuelle Progressionspotenzial eines Athleten liegt.
Wulffs Beispiel als Lektion
In der Vergangenheit waren Wulffs Trainer überzeugt, dass sein genetisches Potenzial bei 10,23 Sekunden lag.
Doch der Wechsel zum Bobtraining, der mehr Maximalkraft und Explosivkraft sowie Muskelaufbau fokussierte, steigerte seine Leistung auf beeindruckende 10,06 Sekunden.
Diese Entwicklung zeigt, dass das individuelle Potenzial oft höher ist als vermutet – insbesondere, wenn das Training auf die spezifischen Stärken des Athleten zugeschnitten ist.
Historisch gesehen legt das Training in der Leichtathletik im Kurzsprint einen größeren Fokus auf Elastizität.
Doch Wulffs Fall verdeutlicht, dass Athleten, die ein höheres Progressionspotenzial in der Maximalkraft haben, dieses entwickeln müssen um ihr genetisches Potential mehr ausschöpfen zu können.
Ein ähnliches Beispiel ist Sven Knipphals, einer der erfolgreichsten, deutschen Sprinter, mit dem ich jahrelang zusammengearbeitet habe und der für seine Explosivkraft bekannt ist. Sven hatte ebenfalls einen der größten Sprünge in seiner Sprintleistung durch einen Fokus auf Maximalkraft verzeichnet.
Wulff erzielte seine Bestleistung von 10,23 Sekunden in den USA und kam mit einer Kraftleistung von 140 Kilogramm im Umsetzen in den Stand (engl. Power Clean) zurück.
Zum Vergleich: Sven Knipphals, der 160 Kilogramm im
Fazit
Wulffs Fokus auf die Olympischen Spiele im Bobsport ist vollkommen nachvollziehbar.
Selbst mit seiner aktuellen Bestzeit und einer möglichen weiteren Verbesserung von 0,1 Sekunden ist es unrealistisch, im 100-Meter-Sprint eine Medaille bei Olympia zu gewinnen.
Während der Olympiasieg im Bobsport seines Teams um Francesco Friedrich realistisch ist.
Sein Fall und sein großer Leistungssprung verdeutlicht, dass das Potenzial eines Athleten oft viel größer ist als vermutet, wenn man das Training individuell und fortschrittsorientiert anpasst.
Wulffs Erfolg gibt einen entscheidenden Ausblick darauf, wie wichtig es ist, den Fokus im Training auf die Bereiche zu legen, in denen das größte Fortschrittspotenzial liegt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Simon Wulffs Weg zeigt, wie bedeutend es ist, Trainingsmethoden auf die individuellen Stärken und Schwächen auszurichten.
Der Fokus auf Maximalkraft, Muskelmasse und Explosivität ist nicht nur die Basis für den Bobsport, sondern hat ihm auch im Sprint zu neuen Höhen verholfen – eine Lektion, die auch für andere Athleten von großer Bedeutung sein kann.
Wer mehr über Sprint und schneller werden lesen möchte, dem empfehle das Buch "Mach Dich Schneller", das Sven Knipphals zusammen mit mir geschrieben hat. Tiefere Einblicke in die Entwicklung von Explosivkraft und Elastizität, deren Entwicklung, Assessments, Programm Design und Periodisierung gibt es ebenfalls im YPSI Modul 6, das unter anderem das Thema Performance Training, Training der Explosivkraftund sportspezifisches Krafttraining beleuchtet.
Quelle: Sport1 - Ein deutscher 100 m Paukenschlag, der alles in Frage stellt.