#66 - Split Squats statt Kniebeugen – reicht das?

#66 - Split Squats statt Kniebeugen – reicht das?

Ask the Coach #66

Frage: Hallo Wolfgang, David Storl, unter anderem zweifacher Weltmeister im Kugelstoßen, hat vor kurzer Zeit in einem Podcast von seinem Training zu aktiven Zeiten berichtet. Er erwähnte, dass er aufgrund von Knieproblemen von der normalen Kniebeuge zur einbeinigen Kniebeuge (im Ausfallschritt) übergegangen ist, teilweise auch mit Kurzhanteln, um keine Belastung auf das ganze System zu haben. Trotz der deutlich niedrigeren Gewichte habe er bei Beinkraftmessungen immer die besten Werte gehabt. Wie stehst du zu dieser Aussage?

Antwort: Eine spannende Frage, gerade weil sie viele zentrale Aspekte des Leistungssports berührt: individuelle Unterschiede, Kompensation von Schwächen, Karriereverläufe und die Rolle von Maximalkraft.

David Storl war ohne Frage ein herausragender Athlet. Mit zwei Weltmeistertiteln, EM-Gold und Olympiasilber zählt er zu den erfolgreichsten Kugelstoßern der deutschen Geschichte. In einem Interview sagte er einmal:

„Ich komme bei den Kniebeugen auf 230 Kilogramm und im Bankdrücken auf 190. Es gibt Kugelstoßer, die schaffen 60 Kilo mehr.“

Diese vordergründigen „Defizite“ bei den Kraftwerten hat er durch überdurchschnittliche Schnelligkeit und exzellente Technik kompensiert.

Adam Nelson, selbst Olympiasieger 2004, sagte über Storl:

„Ich habe noch nie jemanden gesehen, der beim Angleiten seinen rechten Fuß so schnell unter den Körper bringt wie Storl.“

Dazu passt auch Storls Hintergrund als ehemaliger Mehrkämpfer, ein Vorteil, der seine Grundschnelligkeit, Vielseitigkeit und Bewegungsqualität mitgeprägt hat.

Diese Qualitäten trugen dazu bei, dass er in jungen Jahren außergewöhnlich erfolgreich war: Seine sportliche Hochphase lag zwischen 2011 und 2015 – also in einem Alter, in dem viele Kugelstoßer noch deutlich vor ihrer Peak-Phase stehen.

Denn: Die Weltklasse im Kugelstoßen erreicht ihr Leistungsmaximum häufig erst mit Ende 20 oder Anfang 30. Nicht umsonst gehören Werfer in der Leichtathletik zu den ältesten Teilnehmern bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen.

Ich habe David 2012 vor den Olympischen Spielen in Kienbaum persönlich kennengelernt und ihn dort auch beim Training beobachtet.

Adam Nelson wiederum habe ich 2009 in den USA getroffen und eine Woche lang bei seinen Einheiten zugeschaut.

Er erzählte damals, dass er selbst über längere Zeit Knieprobleme hatte, bis eine simple Änderung seine Beschwerden löste: Statt Teilbewegungen zu machen, begann er mit kontrollierten, tiefen Kniebeugen.

Das Ergebnis: Seine Schmerzen verschwanden, und die Bewegung wurde sauberer. Ich habe ihn in dieser Woche mehrfach beugen sehen, mit sehr guter Technik.

Nelson war im Kraftbereich am anderen Ende des Leistungsspektrums:

  • LH Kniebeugen mit 300 kg für zehn Wiederholungen,
  • LH Kniebeugen mit 360 kg für eine Wiederholung, 
  • Power Snatch mit 140 kg,
  • Schrägbankdrücken mit Fat Bar mit 240 kg. 

Und das mit einer Explosivkraft, die so ausgeprägt war, dass er beim Pre-Camp des US-Leichtathletikverbands vor Olympia 2004 sogar den mehrfachen Weitsprung Olympiasieger und Weltmeister Dwight Phillips im standing long jump schlug, also beim Sprung aus dem Stand.

Wenn wir das Spektrum an Kraftwerten im Kugelstoßen betrachten, steht Nelson sicher ganz oben.

Storl hingegen, gemessen an den Kraftwerten, eher am unteren Ende.

Trotzdem war er international erfolgreich. Warum?

Die Antwort liegt im Detail:

Kraft ist nicht gleich Kraft.

Man muss unter anderem unterscheiden zwischen
Maximalkraft (hohe Last, langsame Geschwindigkeit),
Explosivkraft (mittlere Last, hohe Geschwindigkeit) und
Schnellkraft/Speed (niedrige Last, maximale Beschleunigung).

Während Storls Maximalkraft limitiert war (vgl. 230 kg Kniebeugen), war seine Speed-Komponente außergewöhnlich hoch – wie auch das Nelson-Zitat zeigt.

Diese Schnelligkeit ermöglichte ihm, trotz niedriger Lasten beeindruckende Werte bei Beinkraftmessungen zu erzielen – je nachdem, was genau gemessen wurde.

Denn auch hier ist Kontext entscheidend:
– Bezieht sich „beste Werte“ auf Tests im Vergleich zu anderen deutschen Kugelstoßern – oder zur internationalen Spitze?
– Welche Art von Test war es – Kraft im Sinne von Last, oder im Sinne von Beschleunigung?

Gerade bei nationalen Vergleichen kann eine hohe technische Präzision und Bewegungsschnelligkeit solche Messungen positiv beeinflussen – ohne dass dies auf eine hohe Maximalkraft schließen lässt.

Hinzu kommt: Storls Karriere war außergewöhnlich früh erfolgreich und ebenso früh durchzogen von Verletzungen und Leistungseinbruch. 

Ein Karriereverlauf über vier bis fünf Jahre ist im Kugelstoßen sehr kurz.

Zum Vergleich: Adam Nelson war auf Weltklasse-Niveau etwa zehn Jahre aktiv – also mehr als doppelt so lang.

Auch dies unterstreicht, wie stark Maximalkraft und strukturelle Belastbarkeit die Langlebigkeit einer Karriere beeinflussen.

Zur Aussage „Ich habe auf Split Squats mit Kurzhanteln umgestellt, um keine Belastung auf das ganze System zu haben“:

Diese Entscheidung ist verständlich – gerade aus Reha-Sicht. Aber im Kontext von Training zur Leistungssteigerung muss klar sein:

Weniger Last bedeutet weniger Reiz. Weniger Reiz bedeutet weniger Anpassung.

Oder kurz: Wenig Gewicht macht wenig Kraft. Mehr Gewicht macht mehr Kraft.

Wenn also auf Dauer keine schweren Bewegungen trainiert werden – etwa Kniebeugen, Kreuzheben, olympisches Gewichtheben – dann bleibt das Potenzial in Sachen Maximal- und Explosivkraft unausgeschöpft. 

Für einen Athleten, dessen Stärken eher in Technik und Speed liegen, ist das langfristig problematisch – sowohl hinsichtlich der Leistung als auch der Verletzungsprophylaxe.

Spannend bleibt auch die Frage: Was wäre gewesen, wenn Storl – mit seiner Technik und Schnelligkeit – eine ähnliche strukturelle Robustheit und Kraftbasis wie Nelson aufgebaut hätte? Vielleicht hätte seine Karriere dann nicht nur früher geglänzt – sondern auch länger.

Dieses Spannungsfeld zwischen individuellen Stärken und strukturellen Limitierungen findet sich nicht nur im Kugelstoßen – sondern in quasi jedem Hochleistungssport.

Als grosser Fan der UFC und in Anbetracht ihrer steigenden Popularität, hier ein gutes Beispiel aus einem anderen Sport das individuellen Differenzen auf höchstem Niveau verdeutlicht:

Selbst die Top 5 einer Gewichtsklasse – also die aktuell fünf besten Kämpfer der Welt – unterscheiden sich teils stark in Stärken und Schwächen, sowie entsprechend ihrem Stil. Während alle natürlich die Grundlagen auf hohem Niveau beherrschen, gilt:

Wer seine Stärken optimal ausspielen und gleichzeitig seine Schwächen kompensieren kann, wird erfolgreicher – und bleibt meist auch länger auf höchstem Niveau.

 

Fazit

David Storls Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie stark individuelle Faktoren im Leistungssport wirken.

Auch auf Weltklasseniveau gibt es keine universellen Standards ausserhalb der Grundlagen.

Jeder Athlet bringt eine andere Kombination aus Kraft, Technik, Schnelligkeit und Bewegungsverständnis mit. 

Entscheidend ist, wie gut das Training auf diese individuelle Mischung abgestimmt ist.

Als Coach ist genau das die Aufgabe:

Es geht nicht darum, einem Athleten ein Schema aufzuzwingen, sondern ein System zu gestalten, das sich an den Athleten anpasst.

Denn nur so lässt sich Potenzial ausschöpfen – und eine lange, erfolgreiche Karriere gestalten.

 

„Ask the Coach“ ist die Kolumne in der Wolfgang Unsöld Eure Fragen zu Training & Ernährung beantwortet. Das gleichnamige Buch ist im Riva Verlag erschienen und direkt hier erhältlich

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