
#67 - Stabis machen alle – aber machen sie auch Sinn?
Ask the Coach #67
Frage: Hallo Wolfgang, in Sportarten wie der Leichtathletik gelten die sogenannten Stabis – also Stabilisationsübungen für Rumpf, Rücken und Bauch – als unverzichtbarer Bestandteil des Trainings. Viele sagen sogar, dass alle Profis sie machen. Wenn ich Wolfgangs Trainingsansatz richtig verstehe, wären solche Übungen aus seiner Sichtweise nicht so zielführend, weil kein großer Muskelzuwachs erzielt werden kann und diese Muskelgruppen ohnehin indirekt mittrainiert werden. Könnt ihr dazu bitte kurz Stellung nehmen?
Antwort: Die Frage ist berechtigt – und der Grund, warum sie polarisiert, liegt vor allem an einem: fehlender Differenzierung.
Stabilität ≠ Stabilität
Wer über Stabilität spricht, muss präzise sein. Denn es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen:
-
Stabilität unter geringer Belastung (z. B. im Vierfüßlerstand)
-
Stabilität unter hoher Belastung (z. B. bei Sprint, Sprung, Kniebeuge, Wurf)
Der Übertrag von der einen in die andere ist nicht gegeben.
Nur weil ein Auto bei 30 km/h gut bremst, heißt das nicht, dass es bei 300 km/h ebenfalls sicher bremst.
Gleiches gilt im Training:
Übungen, bei denen Hände und Füße gleichzeitig am Boden sind, bilden biomechanisch ein völlig anderes System als explosive Bewegungen mit hoher Last.
Stabilität ist eine Frage der Kraft
Stabilität bedeutet: Kräfte absorbieren und danach wieder in den Ausgangszustand zurückkehren.
Also: keine oder minimale Bewegung unter Krafteinwirkung.
Im biomechanischen Kontext ist geringe Stabilität gleichzusetzen mit einem Bruch, Riss oder strukturellem Versagen.
Die Fähigkeit zur Kraftabsorption hängt direkt mit Maximalkraft zusammen – und zwar nicht mit der Kraft einzelner Muskeln, sondern des gesamten Systems.
Was Profis machen – und was wirkt
Oft wird argumentiert: „Aber alle Profis machen das.“
Das stimmt. Aber:
Nicht alles, was ein Profisportler macht, ist automatisch sinnvoll.
Jedes Trainingsprogramm besteht aus drei Teilen:
→ Wirkungsvoll, neutral, kontraproduktiv
Jeder Athlet – ausnahmslos – macht Dinge aus allen drei Kategorien.
Die Herausforderung ist, möglichst viel Zeit im wirkungsvollen Bereich zu verbringen. Das Problem: Viele Trainer und Athleten können das nicht differenzieren – sie sehen was gemacht wird, aber nicht warum und mit welchem Übertrag.
Wie Professor Dr. Dr. Dietmar Schmidtbleicher es einmal während eines der Seminare formulierte, die er bei uns im YPSI in Stuttgart gehalten hat:
„Wenn ich vor 300 Jahren am Ende meines Vortrags gesagt hätte: ‚Passen sie auf dem Heimweg auf, es könnten Hexen im Wald lauern‘ – alle hätten genickt. Heute wissen wir, dass es keine Hexen gibt. Aber glauben sie nicht, das die Sportwissenschaft nicht noch immer voller Hexen ist.“
Der Punkt: Nur weil etwas verbreitet ist, ist es noch lange nicht richtig.
Ein Beispiel aus dem Hochleistungssport
Vor einigen Jahren lernte ich einen Athleten kennen, der insgesamt zweimal Olympia-Silber und einmal Olympia-Bronze gewann. Er arbeitete damals mit einem Coach zusammen, den ich gut kenne.
Wir kamen ins Gespräch, weil der Athlet seit längerem mit wiederkehrenden Rückenschmerzen kämpfte.
Er hatte bereits ein Core-Programm eines renommierten Experten für Rückenprobleme aus Kanada über ein Jahr umgesetzt – klassisches Stabi-Training in verschiedensten Variationen. Die Beschwerden blieben unverändert.
Im Austausch mit ihm habe ich mir seine Situation näher erklären lassen. Ein Punkt, der mir direkt auf fiel ist das er bei seinem sehr niedriger Körperfettanteil aktuell rund zehn Kilo unter seinem üblichen Wettkampfgewicht war.
Statt gut 70 kg wog er nur gut 60 kg.
Sprich, es fehlten gut 10 kg funktionelle Muskelmasse.
Und damit weniger strukturelle „Substanz“, um die hohen Kräfte seines Sports abzufangen.
Daraufhin hat er ein strukturiertes Krafttraining eingebaut und die Ernährung leicht angepasst – Ziel: wieder funktionelle Masse aufbauen.
Ich war mit ihm einige Mal im Kontakt und über die folgenden Monate baute er wieder zehn Kilo fettfreie Masse auf.
Sein Körperfett blieb niedrig. Seine funktionelle Masse stieg an. Die Rückenschmerzen verschwanden.
Nicht, weil er noch mehr Planks gemacht hat. Sondern weil das System wieder genug Gewebe hatte, um Kräfte zu absorbieren.
Die Illusion der Alternativübungen
Viele klassische „Stabis“ dienen eigentlich einem anderen Zweck: Aktivierung.
Als Warm-up, um gezielt Muskulatur vor einer Krafteinheit zu aktivieren, können sie sinnvoll sein. Als Ersatz für strukturbildendes Krafttraining – nicht.
Was bringt ein perfekt gespannter Rumpf im Vierfüßlerstand, wenn man beim Sprint oder Sprung keine Kräfte mehr stabilisieren kann?
Muskelmasse ist nicht das Ziel – aber oft die Lösung
Im Leistungssport geht es fast nie direkt um Muskelmasse – außer in Gewichtsklassen- oder Kraftsportarten. Entscheidend ist Maximalkraft im Gleichgewicht, angepasst an die Sportart.
Muskelmasse ist das Fundament, auf dem Kraft entsteht.
Mehr Muskelmasse heißt:
→ Mehr Fläche zur Kraftentwicklung
→ Mehr Gewebe zur Kraftaufnahme
→ Mehr Substanz zum Schutz sensibler Strukturen (z. B. unterer Rücken)
Der eigentliche Denkfehler
Viele nehmen an, dass mehr Stabi-Training automatisch mehr Stabilität bringt.
Aber das ist so, als würde man denken: mehr Ausdauertraining macht automatisch schneller.
Beides ist nur dann zutreffend, wenn die Methode zum Ziel passt.
Fazit
Stabilisation ist wichtig – jedoch nicht als Plank- oder Vierfüßler-Ritual.
Stabilität entsteht auf Basis von Maximalkraft und muskulärer Balance.
Was häufig gemacht wird, ist nicht automatisch wirksam.
Und vieles, was wirksam wäre, wird noch gar nicht gemacht.
Die Aufgabe als Coach ist es, zu erkennen, was wirkt, was neutral ist und was nichts bringt – und das Training darauf aufzubauen.
Denn nicht alles, was nach Wirkung aussieht, wirkt auch.
Und nicht alles, was gemacht wird, bringt dich weiter.
„Ask the Coach“ ist die Kolumne in der Wolfgang Unsöld Eure Fragen zu Training & Ernährung beantwortet. Das gleichnamige Buch ist im Riva Verlag erschienen und direkt hier erhältlich.