Wissenschaft: Die Wahrheit oder nur Gedankenanstoß?

Wissenschaft: Die Wahrheit oder nur Gedankenanstoß?

In den letzten Jahren habe ich, Wolfgang Unsöld, immer wieder über die zunehmende Bedeutung und übermäßige Bewertung der Wissenschaft in den Bereichen Training und Ernährung reflektiert.

Besonders durch die Popularität der "science-based community" in den sozialen Medien wird der wissenschaftliche Ansatz häufig als die einzige Wahrheit und wichtige Basis der erfolgreichen Arbeit in der Praxis dargestellt.

Diese Entwicklung steht im Kontrast zu der Geschichte von Training und Ernährung, meiner eigenen, langjährigen Erfahrung sowie dem hohen Wert der Kompetenz, die in erster Linie auf umfangreichen Erfahrungen und Erfolgen basiert – ein Prozess, der natürlich mühsam ist und nicht einfach nachgeahmt werden kann.

Die erfolgreichsten Coaches der Geschichte sind Pioniere, die ihr Wissen und ihre Erkenntnisse aus der Praxis gewinnen.

Ihre Erfolge und Erfahrungen dienen nicht nur als Grundlage für wissenschaftliche Forschung, sondern übertreffen diese oftmals um Jahrzehnte.

Diese praktischen Erfolge sind von entscheidender Bedeutung, da die Wissenschaft weniger die Grundlage für ihren Erfolg bildet, sondern vielmehr von diesen praktischen Erfolgen inspiriert und getragen wird.

Doch scheint es heute oft, als ob die eigene Erfahrung, vor allem in der Arbeit mit Athleten und Kunden, sowie der daraus erreichten Erfolge und die daraus resultierende Kompetenz oft zu gering geschätzt werden, während die Wissenschaft als Grundlage für Aussagen herangezogen wird, unter der Annahme, dass sie die ultimative Wahrheit repräsentiert.

Eine solche Entwicklung sollte kritisch betrachtet werden, denn in der Praxis, ob Breiten- oder Leistungssport, hat sich gezeigt, dass die Arbeit basierend auf praktischer Kompetenz grundsätzliche wesentlich erfolgreichere Ergebnisse liefert als das Vertrauen auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die in ihrer Anwendung nicht immer zuverlässig, flexibel und vor allem in statistisch unüblichen Situationen effektiv sind.

 

Wissenschaft und Wahrheit

Wissenschaft basiert auf der systematischen Sammlung und Analyse von Daten, um Muster und Zusammenhänge zu erkennen.

Dabei verfolgt sie das Ziel, objektive und verallgemeinerbare Erkenntnisse zu gewinnen.

Doch was bedeutet "Wahrheit" in diesem Kontext?

Wissenschaftliche Theorien sind grundsätzlich Modelle der Realität, die auf derzeit verfügbaren Daten basieren.

Diese Modelle sind jedoch immer vorläufig und können durch neue Erkenntnisse widerlegt oder modifiziert werden.

Was konstant der Fall ist.

Ein klassisches Beispiel hierfür ist das geozentrische Weltbild, das über Jahrhunderte als Wahrheit galt, bis Kopernikus und später Galileo Galilei das heliozentrische Modell etablierten.

Dies zeigt, dass wissenschaftliche "Wahrheiten" oft zeitlich begrenzt und abhängig vom aktuellen Stand der Forschung sind.

Einer der häufigsten Denkfehler des Menschen ist es, vergangene Entwicklungen gegenüber zukünftigen zu überbewerten.

Dies ist eine wichtige Grundlage, um zu verstehen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse je nach Bereich sogar häufiger zum Teil oder komplett widerlegt werden, als dass sie tatsächlich Bestand haben.

 

Wissenschaft als Gedankenanstoß

Ein zentraler Aspekt der Wissenschaft ist ihre Fähigkeit, neue Denkansätze zu inspirieren und praktische Anwendungen zu fördern.

Durch die Untersuchung der Welt und die Formulierung von Hypothesen bietet die Wissenschaft eine Grundlage für Innovationen und technologische Fortschritte.

Beispielsweise haben die Prinzipien der klassischen Mechanik zur Entwicklung moderner Maschinen geführt, während die Quantenmechanik die Grundlage für Technologien wie Transistoren und Laser gelegt hat.

Der kritische Punkt hierbei ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht als absolute Wahrheiten, sondern als Werkzeuge zur Problemlösung und Weiterentwicklung betrachtet werden sollten.

Sie regen zum Nachdenken an und bieten eine Basis, auf der weiter geforscht werden kann.

Dies ist besonders in der angewandten Forschung sichtbar, wo theoretische Konzepte in praktische Lösungen umgesetzt werden.

 

Allgemeingültigkeit und individuelle Antworten

Ein weiteres Merkmal der Wissenschaft ist ihr Streben nach allgemeingültigen Aussagen.

Wissenschaftliche Studien zielen darauf ab, allgemeine Prinzipien zu identifizieren, die auf viele Fälle anwendbar sind.

Dies unterscheidet sie von anderen Wissensformen, die oft auf individuelle Erfahrungen und subjektive Wahrnehmungen basieren.

Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, Daten zu analysieren, um Korrelationen und Kausalitäten zu bestimmen.

Dies ermöglicht es, allgemeine Trends und Muster zu erkennen.

Ein bekanntes Beispiel ist die epidemiologische Forschung, die allgemeine Risikofaktoren für Krankheiten identifiziert, anstatt individuelle Krankheitsursachen zu bestimmen.

Dennoch müssen diese allgemeinen Aussagen in der Praxis oft an individuelle Gegebenheiten angepasst werden, was die Grenzen der Wissenschaft in der Anwendung zeigt.

 

Statistische Ungewissheiten und Wandel der Erkenntnisse

Wissenschaftliche Ergebnisse basieren oft auf statistischen Analysen, die inhärente Unsicherheiten mit sich bringen.

Diese Unsicherheiten führen dazu, dass wissenschaftliche Aussagen immer mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit getroffen werden.

Selbst in Bereichen mit scheinbar klaren Kausalitäten treten damit grundsätzlich immer Ausnahmen auf.

So gilt beispielsweise das Gesetz der großen Zahlen, welches besagt, dass sich die Ergebnisse von Zufallsexperimenten mit zunehmender Anzahl von Durchführungen einem bestimmten Wert annähern.

In der Praxis können jedoch auch extrem seltene Ereignisse, wie das Auftreten schwarzer Schwäne, auftreten, die nicht durch die allgemeinen Regeln vorhergesagt werden.

Es ist auch wichtig zu betonen, dass Wissenschaftler sich bewusst sind, dass viele ihrer Erkenntnisse im Laufe der Zeit widerlegt oder modifiziert werden können.

Dies wird durch die Geschichte der Nobelpreise illustriert.

Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Nobelpreis für die Frontallappen-Lobotomie.

Diese Behandlungsmethode war ein chirurgischer Eingriff, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts häufig durchgeführt wurde, um verschiedene psychische Erkrankungen zu behandeln.

Sie wurde damals als so revolutionär und erfolgreich angesehen, dass sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Heute gilt sie jedoch als unethisch und unwirksam.

Dieses Beispiel zeigt, dass selbst hoch angesehene wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden später als fehlerhaft erkannt werden können.

Wichtig ist jedoch auch zu verstehen, dass ein zentrales Merkmal der Wissenschaft ihre Stärke ausmacht: die Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren und stetig zu verbessern.

 

Beispiele aus der Sportwissenschaft

In der Sportwissenschaft zeigt sich die Vorläufigkeit und die ständige Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Kohlenhydratzufuhr im Ausdauersport

Lange Zeit galt die Regel, dass Athleten vor einem Wettkampf eine hohe Menge an Kohlenhydraten zu sich nehmen sollten, um ihre Energiereserven zu maximieren.

Aktuelle Forschung hat jedoch gezeigt, dass eine gezielte Periodisierung der Kohlenhydratzufuhr, auch bekannt als "train low, compete high", bei manchen Athleten zu besseren Leistungen führen kann.

Dehnen und Verletzungsprävention

Früher wurde angenommen, dass statisches Dehnen vor dem Sport das Verletzungsrisiko verringert.

Aktuelle Studien legen nahe, dass dynamisches Aufwärmen und spezifische Beweglichkeitsübungen effektiver sind und das statische Dehnen sogar die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann.

Regeneration und Eisbäder

Eisbäder wurden lange Zeit als wirksame Methode zur Regeneration nach intensivem Training propagiert.

Aktuelle Forschungen zeigen jedoch, dass der Nutzen dieser Methode stark individuell variieren kann, da unter anderem das Timing entscheidend ist und so nicht für alle Athleten und Sportarten optimal ist.

 

Beispiele aus der Ernährungswissenschaft

Auch in der Ernährungswissenschaft zeigt sich die Vorläufigkeit und die ständige Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Fettreiche vs. fettarme Ernährung

In den 1980er Jahren galt fettarme Ernährung als der Schlüssel zur Gewichtsabnahme und Herzgesundheit.

Neuere Studien zeigen jedoch, dass bestimmte fettreiche Diäten, wie Low Carb und Keto, ebenfalls gesundheitliche Vorteile bieten und beim Abnehmen helfen können.

Cholesterin und Eier

Lange Zeit wurde empfohlen, den Konsum von Eiern zu minimieren, da sie als cholesterinreich galten und Herzkrankheiten fördern könnten.

Aktuelle Forschungen legen nahe, dass der Verzehr von Eiern in Maßen keine negativen Auswirkungen auf die Herzgesundheit hat und sogar nahrhaft sein kann.

Probiotika und Darmgesundheit

Früher ging man davon aus, dass Probiotika den Darm neu besiedeln könnten und so langfristig die Darmgesundheit verbessern.

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Probiotika hauptsächlich akute positive Effekte auf das Verdauungssystem haben, ohne den Darm tatsächlich dauerhaft zu besiedeln.

     

    Wissenschaft als theoretisches Modell und Praxisbezug

    Letztlich ist Wissenschaft immer ein theoretisches Modell, das darauf abzielt, die Realität so genau wie möglich zu beschreiben.

    Aber Theorie allein ist im realen Leben relativ wertlos, wenn sie nicht praktisch angewendet wird.

    Der wahre Wert der Wissenschaft liegt darin, Gedankenanstöße zu geben und praktische Lösungen zu entwickeln, die es uns ermöglichen, unsere Ziele zu erreichen, höhere Ziele zu stecken und diese zu übertreffen.

    Deshalb ist in der Wissenschaft der Gedankenanstoß wesentlich wichtiger als eine mögliche Wahrheit.

    Es geht darum, wie wir Dinge in der Praxis besser machen können, um Fortschritt und Verbesserung zu fördern.

     

    Fazit

    Wissenschaft ist ein wichtiger Faktor, der den Menschen von allen anderen Lebewesen abgrenzt.

    Wissenschaft ist weder die absolute Wahrheit noch bloß ein Gedankenanstoß.

    Wissenschaft ist ein dynamischer Prozess der Erkenntnisgewinnung, der ständig überprüft und verbessert wird.

    Ihre Stärke liegt in der Fähigkeit, systematische und verallgemeinerbare Erkenntnisse zu liefern, die als Grundlage für weiteres Denken und praktische Anwendungen dienen.

    Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass wissenschaftliche Modelle stets vorläufig und durch statistische Unsicherheiten begrenzt sind.

    Letztendlich bietet die Wissenschaft wertvolle Impulse, die über den reinen Erkenntnisgewinn hinausreichen und die menschliche Kreativität und Innovation fördern.

    Wissenschaftliche Erkenntnisse regen dazu an, praktische Lösungen zu finden und kontinuierlich nach Verbesserungen zu streben, um so einen echten Beitrag zur Praxis und zum Fortschritt zu leisten.

    Und das ist worum es am Ende in der Wissenschaft geht.

    Ein konstruktiver Übertrag zu Fortschritt und Erfolg in der Praxis. 

     

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